Stadtbahnfenster der Zukunft

Ein Blick auf das Bahnfenster – und schon ist der Fahrgast über vorbeiziehende Sehenswürdigkeiten und seinen Anschluss informiert. Was noch etwas nach Science-Fiction klingt, wird derzeit im Forschungsprojekt „Modell und Kontextbasierte Mobilitätsinformationen auf Smart Public Displays und Mobilgeräten im öffentlichen Verkehr“, kurz SmartMMI – erforscht. Fahrgäste im öffentlichen Verkehr möchten in jeder Situation gut informiert sein. Das Projekt stellt daher die Verbesserung der Informationsversorgung der Fahrgäste entlang ihrer Mobilitätskette in den Vordergrund. Je nach Situation, aber auch je nach Fahrgast, verändert sich der Informationsbedarf – ob im Störungsfall, bei Planänderungen, zu touristischen Zielen oder zu entlang der Strecke erhältlichen Services, SmartMMI erforscht, wie Fahrgäste möglichst situationsgerecht informiert werden können.

 

Abb. 1: Projektübersicht SmartMMI

Im Rahmen des Projekts, gefördert in der Forschungsinitiative mFund des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur, erarbeiten fünf Projektpartner aus Industrie und Forschung neue Technologien von der Datenerfassung und Datenintegration hin zur Visualisierung der Daten. Mobilitätsdaten sollen kontextsensitiv – das heißt angepasst an Situation und Fahrgast – zur Verfügung gestellt werden können. Dabei setzt das Projekt auf die Erforschung und Erprobung der kontextsensitiven Datenbereitstellung auf speziell entwickelten intelligenten semi-transparenten Display-Scheiben, die in Fahrzeugen des Öffentlichen Verkehrs und an Haltestellen eingebaut werden können, in Verbindung mit Anwendungen auf mobilen Endgeräten der Fahrgäste. Durch die Kombination von transparenten Display- und innovativen Mobiltechnologien finden die hochrelevanten Mobilitätsinformationen den direkten Weg zum Nutzer – um den ÖPNV attraktiver zu gestalten. Im Rahmen des Projekts werden Technologien für die Erfassung und Integration von Daten aus unterschiedlichsten Datenquellen entwickelt. Dabei setzt das Konsortium auf den Einsatz von Big Data und Smart Data Technologien und die Integration von spezifischen ÖV-Daten auf Basis der neuesten Standards mit Open Data und Daten von Drittanbietern. Die Daten werden semantisch aufgewertet, um eine intelligente Integration und vor allem Selektion der relevanten Daten zu ermöglichen – also ein „Verstehen“ auch durch Systeme.

 

Abb. 2: Systemkomponenten SmartMMI

Kontextinformationen beschreiben die aktuelle Situation der Fahrgäste und des ÖPNV. Sie ermöglichen dadurch dem System, auf die Situation zugeschnittene Informationen auszuwählen und diese dann nutzer- und situationsgerecht aufzubereiten. So werden zum Beispiel sensitive Daten in geeigneter Aufbereitung auf dem Smartphone des Nutzers angezeigt, während allgemeine, ergänzende Informationen auf dem semi-transparenten SmartWindow des Fahrzeugs dargestellt werden. Damit kann die größere Fläche eines Stadtbahnfensters für mehr Details und sogar für die Realität überlagernde Hinweise (AR) eingesetzt werden. Visualisierungskonzepte werden erforscht und evaluiert, die zum Beispiel für einen Fahrgast ergänzend zu seiner persönlichen Route Informationen über die Strecke vermitteln, etwa zum Wetter oder zu touristischen Attraktionen. Das Institut für Ubiquitäre Mobilitätssysteme (IUMS) der Hochschule Karlsruhe koordiniert das Projekt und legt den Fokus der eigenen Forschungsarbeiten auf die Entwicklung semantischer Konnektoren, welche die ÖV-Daten aufwerten und mit weiteren entlang der Reisekette relevanten Daten optimal verknüpfen, sowie auf die Erarbeitung neuer Visualisierungs- und Bedienkonzepte am und mit dem SmartWindow. Im Folgenden wird auf die einzelnen Forschungsschwerpunkte näher eingegangen sowie erste Ergebnisse des Forschungsprojekts vorgestellt. Kontextadaptivität – bedarfsgerecht informieren: Menschen unterscheiden sich in ihren Präferenzen, Interessen und Zielen. Für Fahrgäste im öffentlichen Verkehr sind eine große Anzahl verschiedener Faktoren wichtig und bestimmen gleichzeitig, wie diese Fahrgäste den ÖV nutzen, welche Informationen sie benötigen und auf welche Art und Weise sie informiert werden können oder möchten. Diese Faktoren beschreiben als Kontextinformationen Fahrgäste, ihre Situation und ihre ÖV-Nutzung. Relevante Kontextinformationen für SmartMMI sind beispielsweise die Art des vorhandenen Tickets, bevorzugte Bezahlmethoden, Präferenzen für die ÖV-Nutzung, von der Vermeidung bestimmter
Verkehrsmittel bis hin zur Vermeidung von Treppen, Vorlieben für Verbindungen mit wenig Umstiegen oder möglichst wenig Wartezeiten oder der Besitz eines Smartphones mit ÖV-App neben vielen weiteren Informationen. Diese Informationen charakterisieren sowohl die eingetretene Situation als auch den Fahrgast selbst und können genutzt werden, Fahrgäste angemessen und personalisiert zu informieren.
Um den Fahrgästen die für sie relevanten Informationen und Services situationsgerecht anbieten zu können, müssen zunächst Kontextdaten erfasst werden, die dann zur Beschreibung der Situation dienen, in der sich der Fahrgast zum aktuellen Zeitpunkt befindet. Über die persönlichen Vorlieben und Ziele hinaus werden auch Umweltfaktoren wie die Tages- und Jahreszeit, Wetterbedingungen und viele weitere mit einbezogen. Kontextinformationen werden ebenfalls dazu eingesetzt, die Verwendung des Systems so unkompliziert wie möglich zu gestalten. Im Forschungsprojekt sind beispielsweise mehrere Anpassungen der Visualisierung auf dem SmartWindow vorgesehen. Befindet sich eine Person in der Straßenbahn, deren SmartMMI App auf eine Fremdsprache eingestellt ist, so kann zum Beispiel die Anzeigesprache für Informationen auf dem SmartWindow ergänzt werden. Dabei ist eine passive Kommunikation zwischen der App auf den Smartphone und dem SmartWindow im Fahrzeug vorgesehen. So können beispielsweise die bekannten Ziele der im Fahrzeug anwesenden Fahrgäste genutzt werden, um relevante Störungsmeldungen oder Umsteigehinweise anzuzeigen.
Weiterhin soll eine Anreicherung von Fahrgastinformationsanfragen mit zusätzlichen Kontextinformationen der Nutzer stattfinden. Wenn es zum Beispiel in Strömen regnet, würde das SmartMMI System Fahrgästen ÖV-Verbindungen mit Umstiegen an wettergeschützten Haltestellen vorschlagen.

In Touch mit Mobilitätsinformationen:
Ein weiterer Forschungsschwerpunkt im Projekt SmartMMI untersucht die Bedienmöglichkeiten des intelligenten Stadtbahnfensters. Hierbei werden verschiedene Möglichkeiten der Interaktion auf ihre Eignung hin untersucht. Von Multi-Touch, wie bei Tablets und Smartphones üblich, über Gestensteuerung, ähnlich der in Spielekonsolen (bspw. X-Box) bis hin zu Sprachsteuerung, ähnlich Sprachassistenzsystemen aus dem Home-Entertainment Bereich (bspw. Alexa) bieten verschiedene Interaktionsmöglichkeiten unterschiedliche Vor- und Nachteile und eignen sich mehr oder weniger zum Einsatz in verschiedenen Umgebungen und Situationen. Eine wichtige Aufgabe im Forschungsprojekt ist nun, die optimale Interaktionsmöglichkeit oder gegebenenfalls die optimale Kombination der Interaktionsmodalitäten herauszufinden und diese dann möglichst nutzerfreundlich umzusetzen. Dazu sind im Projekt unterschiedliche Nutzerstudien geplant. Im Rahmen eines studentischen Projekts wurde bereits mithilfe einer Onlineumfrage untersucht, welche Inhalte und Daten den Fahrgästen während einer Bahnfahrt wichtig sind und welche davon auf dem SmartWindow dargestellt werden sollten. Mehr als 250 Teilnehmer verschiedener Altersklassen, Erfahrungsstand mit ÖV und Technikaffinität nahmen an der Umfrage teil. Die Ergebnisse geben dabei einen guten Einblick in die unterschiedlichen Bedürfnisse verschiedener Fahrgäste. Im Anschluss an die Auswertung der Umfrageergebnisse erfolgte in einer kleineren Nutzerstudie eine Untersuchung der Anordnung der herausgefundenen Informationen und Daten auf dem SmartWindow mit Hilfe von Mock-Ups, d.h. einer prototypischen Umsetzung eines SmartWindows. Hierbei lag der Schwerpunkt auf der Untersuchung, welche Bedienelemente für die Nutzer erkennbar, erreichbar und gut bedienbar sind. Die Entwicklung der Benutzungsschnittstelle zwischen einem Mobilitätssystem wie SmartMMI über verschiedene Endgeräte – Smartphone oder SmartWindow – und verschiedene Interaktionsmodalitäten – Multi-Touch, Sprache oder Gestik – wird im Projekt in weiteren Untersuchungen unter Beteiligung von Nutzern weitergeführt. Zum Ende des Projekts wird ein Prototyp des Systems in eine Bahn der Karlsruher Verkehrsbetriebe verbaut und in einem großen Feldtest mit verschiedenen Fragestellungen evaluiert. Diese Nutzerstudien, mit deren Hilfe herausgefunden werden soll, in welchen Situationen und unter welchen Umständen die Probanden mit dem SmartWindow interagieren, rückt einen weiteren Forschungsschwerpunkt in den Fokus – die Nutzerakzeptanz.

 

Abbildung 3: Aufbau für Nutzerstudien im IUMS-Labor

Nutzerakzeptanz, Datenschutz & Privacy
Anhand der durchgeführten Studien soll auch untersucht werden, wie hoch die Akzeptanz der Fahrgäste für die Interaktion mit dem SmartWindow unter verschiedenen Bedingungen ist. So ist vorstellbar, das zur Stoßzeit die Bereitschaft, sich eine Route zu einem bestimmten Ziel berechnen zu lassen weniger hoch ist, als in einer wenig besetzen Bahn. Im Rahmen des Projekts wird die Nutzerakzeptanz des Systems in verschiedenen Situationen beleuchtet. Erkenntnisse dazu fließen dann wiederum in die Gestaltung der Prototypen in weiteren Iterationen ein. Der Datenschutz und die Datensicherheit spielen in dem Projekt eine wesentliche Rolle. Ein dediziertes Arbeitspaket im Projekt beschäftigt sich mit dieser Thematik. Die grundlegende Entscheidung, vom Fahrgast bereitgestellte Nutzerinformationen systemseitig zu kapseln, wurde bereits früh im Projekt getroffen. Diese Kapselung erlaubt eine intelligente, selektive und nutzergesteuerte Weitergabe persönlicher Informationen an das System und setzt das Prinzip der Datensparsamkeit um. Eine nachvollziehbare und transparente Kommunikation, welche Informationen erhoben und wofür diese verwendet werden, ermöglicht dem Fahrgast, in Kontrolle seiner Daten zu bleiben.
Im Projekt SmartMMI werden bis zum Jahr 2020 mehrstufig Lösungen eines ambienten intelligenten Reiseinformationssystems, dass Fahrgäste während ihrer Reise im ÖV in jeder Situation bestmöglich unterstützt erforscht, entwickelt und mit Nutzern getestet. Zum Abschluss des Forschungsprojekts ist Mitte 2020 eine halbjährige Feldtestphase im Netz der KVV geplant. So steigert das Projekt die Attraktivität des ÖV als ökologische, zeitsparende und sinnvolle Alternative zum Automobilverkehr deutlich, verknüpft diesen aber auch mit dem Individualverkehr. Prof. Schlegel vom Institut für Ubiquitäre Mobilitätssysteme freut sich, Teil dieses Projekts zu sein und auf spannende Ergebnisse zu den vielfältigen Fragestellungen.

Die gesamte Forschung aktuell 2019 der Hochschule Karlsruhe finden Sie hier: „Forschung aktuell 2019